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Teil 2: Der Wert einer Stimme

 

Quadratic Voting (QV) verspricht, Minderheiten mehr Mitsprache bei Anliegen zu geben, die sie persönlich betreffen. Wird es jedoch auf Basis einer etablierten Währung umgesetzt, kann es bestehende Ungleichheiten verstärken. Konkrete Anwendungen zeigen sein Potenzial.  

Michael Heger, 18. Juni 2024      ⌛️ 5 Minuten      📖 Glossar mit den wichtigsten Begriffen 

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Geprägt wurde das Konzept des Quadratic Voting von Glen Weyl, einem politischen Ökonomen und Microsoft-Forscher. QV ermöglicht es den Teilnehmer:innen, nicht nur eine binäre Entscheidung darüber zu treffen, was ihnen gefällt und was nicht, sondern auch, wie wichtig ihnen ein Thema ist.  

 

Der Preis für zusätzliche Stimmen
 

Aber wie funktioniert das genau? Bei der quadratischen Stimmabgabe können die Wähler*innen einen grösseren Teil ihrer Stimmen für ein bestimmtes Thema verwenden, wenn ihnen dieses besonders wichtig ist - allerdings zu quadratisch steigenden Kosten. 

 

Diese Methode ermutigt die Stimmberechtigten, ihre Optionen sorgfältig abzuwägen und über die Wahlentscheidung hinaus die Intensität ihrer Präferenzen zum Ausdruck zu bringen. Sie zielt darauf ab, den Einfluss aller Meinungen innerhalb eines breiten Meinungsspektrums auszugleichen, indem Minderheitsmeinungen eine Chance erhalten, gehört und berücksichtigt zu werden. 

 

Zwischen Plutokratie und Gleichberechtigung
 

Den kritischen Leser:innen wird nicht entgangen sein, dass Weyls Vorschlag, die Menschen für ihre Stimmen bezahlen zu lassen, in erster Linie einer marktwirtschaftlichen Logik folgt. Quadratic Voting auf der Grundlage einer gemeinsamen, etablierten Währung gibt nicht allen Minderheiten mehr Macht, sondern vor allem den Minderheiten mit mehr Geld, auch wenn das Quadrat dies bis zu einem gewissen Grad abmildert.

 

Um Gleichberechtigung zu schaffen, muss sichergestellt werden, dass alle Wähler:innen über die gleiche Menge an Token verfügen, um ihre Stimmen abzugeben – analog zu "one person, one vote", aber mit mehr Stimmen, um die eigenen Präferenzen nuancierter auszudrücken.

 

Quadratic Voting in Aktion 

Nehmen wir als Beispiel "EcoInnovate", eine fiktive Organisation, die sich auf Nachhaltigkeitsprojekte spezialisiert hat. Bei der Jahresplanung steht sie vor der Frage, wie verschiedene Projektvorschläge priorisiert werden sollen.

 

Um die Präferenzen der Stakeholder:innen zu ermitteln, hat sich EcoInnovate für Quadratic Voting entschieden. Alle erhalten 25 Token, mit denen sie für die 50 verschiedenen Projekte stimmen können. Je überzeugter sie von einem bestimmten Projekt sind, desto mehr Stimmen vergeben sie dafür - während jede zusätzliche Stimme für ein bestimmtes Projekt quadratisch mehr kostet. 

 

Kollektive Überzeugungen messen  

Stefanie gefällt beispielsweise die Initiative "Urbane Grünflächen", also gibt sie eine Stimme ab. Das kostet sie einen Token. Auch die anderen 24 Stimmen verteilt sie einzeln auf 24 weitere Projekte, die sie gut findet.

 

Marcel hingegen begeistert sich für die "Bioremediation von Plastikmüll" und gibt für das Projekt drei Stimmen ab. Das kostet ihn neun Token (3 im Quadrat). "Urbane Grünflächen" ist ihm etwas weniger wichtig, aber doch wichtiger als die anderen Projekte, für die er stimmen will. Deshalb gibt er dem Projekt 2 Stimmen. Das kostet ihn 4 Token. Die restlichen 12 Stimmen verteilt er einzeln auf weitere Projekte, die er gut findet.

 

Für Sarah ist die "Aufklärung über erneuerbare Energien" von zentraler Bedeutung. Deshalb gibt sie vier Stimmen dafür ab, was sie 16 Token kostet (4 hoch 2 = 16). "Bioremediation von Plastikmüll" ist ihr auch sehr wichtig. Sie gibt dem Projekt 3 Stimmen (für 9 Token), womit ihre 25 Stimmen aufgebraucht sind.

   

Das Abstimmungssystem stellt sicher, dass die Stakeholder:innen mehr Stimmen für Projekte abgeben können, die ihnen besonders wichtig sind. Die Jahresplanung von EcoInnovate für das nächste Jahr spiegelt so die kollektiven Präferenzen der Beteiligten viel besser wider als herkömmliche Abstimmungssysteme.  

 

Die Tyrannei der Mehrheit  

Würde die Organisation eine Abstimmung auf der Grundlage von Stimmrechtsanteilen ("stake based voting") durchführen, läuft sie Gefahr, dass einige wenige wohlhabende Stakeholder:innen dafür sorgen, dass Projekte, die ihren finanziellen Interessen oder persönlichen Zielen dienen, die meisten Stimmen erhalten. Vernachlässigt würden Initiativen wie "Bioremediation von Plastikmüll" oder "Urbane Grünflächen", die für die Gemeinschaft oder die Umwelt potenziell vorteilhafter, aber möglicherweise weniger rentabel sind.  

 

Andererseits können Mehrheitsentscheidungen nach dem Prinzip der Wahlgleichheit dazu führen, dass populäre Projekte über wichtige, aber weniger sichtbare Projekte dominieren. Wenn beispielsweise die Mehrheit des Teams 'Urbane Grünflächen' aufgrund seiner unmittelbaren Attraktivität leicht bevorzugt, können komplexere, aber äusserst wichtige Initiativen wie 'Bioremediation von Plastikmüll' zu kurz kommen, obwohl es eine kleinere, aber sehr engagierte Gruppe von Befürworter:innen gibt. 

 

Von der quadratischen Abstimmung zum quadratischen Funding 

In der Governance von Blockchain-Projekten wird Quadratic Voting bereits erfolgreich eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist Gitcoin, eine Plattform zur Finanzierung von Open-Source-Softwareprojekten, die das Gemeinwohl unterstützen. QV wird eingesetzt, um die Mittel für diese Projekte demokratisch zu verteilen. Doch Gitcoin geht noch einen Schritt weiter und hat mit Quadratic Funding einen Finanzierungsmechanismus, der die Idee des quadratischen Votings aufgreift und weiterentwickelt. Crowdfunding wird mit der Zuweisung von Geldern kombiniert, wobei die Anzahl der Beitragszahler*innen und nicht die Höhe der Beiträge im Vordergrund steht. Immer mehr Blockchain-Projekte nutzen Quadratic Funding, um Gelder zu verteilen. Ganz nach dem Motto: Je breiter die Unterstützung, desto grösser der Beitrag.  

 

Anwendungen in der "realen Welt" 

Auch abseits von Blockchain-Projekten haben einzelne Akteure erste Erfahrungen mit Quadratic Voting gesammelt. Taiwan hat das Verfahren zum Beispiel während des Presidential Hackathon zur Auswahl der Gewinnerprojekte eingesetzt. Den Jurymitgliedern wurden 99 Punkte zugeteilt, wobei die Kosten für die Stimmen quadratisch anstiegen. Dadurch konnte das in früheren Jahren beobachtete Herdenverhalten wirksam eingedämmt werden. Die taiwanesische E-Demokratie-Plattform Join nutzt ebenfalls quadratische Abstimmungen, um die Beteiligung der Öffentlichkeit an Haushaltsverfahren zu fördern. 

 

Im Jahr 2019 setzte das Demokratische Komitee des Repräsentantenhauses im US-Bundesstaat Colorado auf quadratische Abstimmungen, um 60 bis 100 Haushaltsvorschläge zu priorisieren. Die Abgeordneten erhielten 100 virtuelle Token, um über verschiedene Massnahmen abzustimmen. Das Ergebnis war ein transparenteres und differenzierteres Verständnis der Präferenzen der Fraktionsmitglieder - ein Beispiel für die erfolgreiche Anwendung quadratischer Abstimmungen in der legislativen Entscheidungsfindung.

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